Als Wien verloren ging

Meine Mutter war eine richtige Wienerin. Sie ist in der Leopoldstadt aufgewachsen, vor allem aber im Prater. Im Haus wohnten Praterattraktionen aller Arten. Der Prater war ihr Lebensumfeld. Bis sie weit über 90 Jahre alt war gab es nichts Schöneres als mit der Liliputbahn durch den Prater zu fahren und anschließend im Jägerhaus Powidltatschkerln zu essen. Es gab kaum einen Wiener Gassenhauer, den sie uns nicht vorgesungen hätte.
Ihre Mutter war noch als Kind aus Mähren nach Wien gekommen, ihr Vater als junger Mann aus Polen. Eine typische Wiener Familie. Der Vater war Eisenbahner, Sozialdemokrat, auch ein Haustyrann, aber das war in dieser Generation wohl ziemlich normal.
Meine Mutter hat immer behauptet, erst die Nazis hätten den Antisemitismus mitgebracht, vorher sei sie in Wien nie damit konfrontiert gewesen. Davon hat sie sich auch durch alle historischen Erkenntnisse nicht abbringen lassen.

Am 9. November 1938 waren meine Mutter und ihre drei älteren Schwestern schon arbeitslos. Und damit beschäftigt, sich Visa für England zu besorgen. Der Vater hatte dekretiert, dass die Kinder weg müssten aus Österreich. Er, so sagte er, und die Mutter könnten bleiben, sie seien alt und er habe hier seine Pension als Eisenbahner, was sollte ihnen schon passieren.
An diesem 9. November wurde sie, die Jüngste, zur Großmutter geschickt, die ganz in der Nähe wohnte, um etwas Mehl auszuborgen. Sie sah die wildgewordenen Horden durch die Straßen rennen, die Großmutter schickte sie weg. „Geh schnell nach Hause, heute soll niemand auf der Straße sein“, hat sie ihr gesagt.
Die Wohnung bestand aus einem Zimmer, einem Kabinett und einer Küche. Die hatte ein Fenster zum Gang hinaus. An diesem Abend wurde das Licht in der Küche abgedreht, die Türe zum Zimmer fest geschlossen, die Fenster ebenfalls.
So haben sie den ersten Abend der Reichspogromnacht verbracht.

An einem der nächsten Tage holte man meine Mutter und ihre Schwestern aus der Wohnung und trieb sie mit anderen Juden durch den geliebten Prater, wo ihr Menschen, die ihr so vertraut gewesen waren, wüste Beschimpfungen zuriefen. In jener Sprache, die immer auch die ihre gewesen war.
Auch als sie schon im Zug nach England saß, dachte sie nicht, dass ihr Wien für immer verloren war. Sie hoffte die große weite Welt zu sehen und ihren Eltern später davon berichten zu können.

Meine Großeltern – der tyrannische Vater und die lustige Mutter – sind vom Aspangbahnhof aus in den Tod verschleppt worden.
Man hat sie im Sommer 1942 mit dem Zug bis Maly Trostinec geschafft. Wie ich erst sehr viel später herausgefunden habe, hat man ihren Transport, der an einem Freitag dort in Weißrussland ankam, bis Montag einfach stehen lassen. Geschlossene Waggons, kein Wasser, kein Essen, in der Hitze des Sommers.
Die Erschießungsmannschaft in Maly Trostinec arbeitete am Wochenende nicht.
Am Montag wurden sie dann ermordet.

Ich war dort, in Maly Trostinec, wo bis vor kurzem nur eine Erinnerungsstätte für die gefallenen sowjetischen Soldaten zu finden war.
Als ich jung war, wollte ich mir nicht vorstellen, was in meinen Großeltern vorgegangen sein mochte. Auf dieser Fahrt in den Tod.
Weil ich es mir auch nicht vorstellen konnte. Ich versuchte mich zu trösten indem ich dachte, sie seien alt gewesen, hätten ihr Leben gelebt. Erst nach und nach ist mir bewusst geworden, wie sehr ich mich damit selbst belogen hatte. 

Und jetzt sind wir also hier. 80 Jahre nach dem Beginn jenes Krieges, der gezeigt hat, wozu Menschen fähig sind. Der gezeigt hat, was Menschen bereit sind, anderen Menschen anzutun.
Wir, die Nachgeborenen, haben uns in der falschen Hoffnung gewiegt, dass es nie wieder so weit kommen werde.
Wir haben uns geirrt.
Aber wir sind noch da.
Haben noch eine Stimme.
Können noch sagen, was nicht passieren darf.
Wir können nicht zulassen, dass wieder Menschen zu Personen zweiter Klasse gemacht werden.
Es gibt kein lebenswerteres und weniger lebenswertes Leben.
Es gibt nur eine Menschenwürde.
So wie jeder von uns nur ein Leben hat – und das Recht, dieses so gut, sicher und geborgen zu verbringen wie möglich.

In diesem 21. Jahrhundert scheinen wir plötzlich und unerklärlicherweise in eine Art postmodernes Mittelalter geraten zu sein.
Junge Menschen tun so, als hätten sie nicht mehr die Pflicht, sich an das zu erinnern, was in diesem Land geschehen ist und was jederzeit wieder geschehen kann, wenn wir nicht aufpassen.
Auch dazu muss unsere Stimme dienen. Dieser falschen Idee vom gesellschaftlichen Leben müssen wir jederzeit und überall energisch entgegentreten.
Das sind wir den Gefolterten, Gequälten, den Ermordeten von damals schuldig.
Und das sind wir den kommenden Generationen schuldig, die uns zurecht fragen werden, was wir dem Ungeist, der neuerdings wieder den Kopf hebt, entgegengesetzt haben.
Meine Generation hatte das große Glück in relativem Frieden heranzuwachsen. Wer sind wir, dass wir glauben dieses Glück nicht auch für unsere Kinder und Enkelkinder bewahren zu müssen?
Und wenn die Kinder heute über Klimaschutz sprechen, dann sprechen sie durchaus auch über den Schutz des Menschen, jedes Menschen.
Es darf nie wieder zu Massenmord kommen.
Und die Politik darf einfach nicht den Interessen Weniger dienen, sie muss dem Schutz aller verpflichtet bleiben.
„Nie wieder!“ muss heute auch heißen – nie wieder wegschauen, nie wieder zulassen, dass die Unmenschlichkeit die Oberhand gewinnt und uns allen das Leben diktiert – oder auch den Tod.  

Susanne Scholl, Omas gegen rechts